Kann die Ukraine siegen?

So bitter es ist: Ein Sieg der Ukraine wird täglich unwahrscheinlicher. Kiews Armee gehen Leute und Material aus, der Feind stellt sich besser ein und verfügt über gewaltigen Nachschub. Kein
Wunder, dass westliche Diplomaten nun immer häufiger von Waffenstillstand sprechen.
Zu Jahresbeginn verbreitete die Ukraine in dem fürchterlichen Krieg, der dem Land durch die russische Aggression seit nunmehr fast einem Jahr aufgezwungen wird, Optimismus. Dieses Jahr, erklärte der Chef des Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanov, werde „Freude und den Sieg“ bringen. Aber wie realistisch ist ein Sieg der Ukraine? 
Es ist nahezu ausgeschlossen, dass die Ukraine als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen wird. Ein Sieg bedeutet nach der Definition des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Rückeroberung aller besetzten Gebiete, also auch der Krim. 

Doch das ist aus heutiger Sicht und unter den gegebenen Umständen – womit vor allem die mangelnde Unterstützung des Westens gemeint ist – unmöglich. Etwa 18 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt Russland derzeit. Dieser Wert dürfte künftig eher steigen als sinken. Leider. Was sind die Gründe für den absehbaren Erfolg Russlands?

 

Erstens: In den Debatten der vergangenen Wochen ist endgültig klar geworden, dass die USA, Deutschland und weitere Nato-Verbündete mehr Angst vor einer Ausbreitung des Krieges auf Nato-Gebiet haben als vor der Bedrohung der westlichen Sicherheit durch territoriale Eroberungen

Russlands in der Ukraine. Die Logik der westlichen Entscheidungsträger lautet: Je kampfstärker, tödlicher und präziser die Waffenlieferungen werden, umso größer ist die Gefahr eines „spillover“-Effekts, also eines Überschwappens. Der Westen leidet unter einer Art Selbstabschreckung
und unterstützt die Ukraine darum nur so, dass sie nicht sofort kapitulieren muss.

 

Zweitens: Russland hat bisher 60 bis 70 Prozent der kritischen Infrastruktur in der Ukraine zerstört. Es ist nicht abzusehen, dass Kiew aus dem Westen ausreichend Luftverteidigungssysteme wie Nasams und Patriots erhalten wird, um die russische Zerstörungsorgie zu stoppen. Im Gegenteil: Die bisherigen kümmerlichen Lieferungen aus dem Westen sind ein Freibrief für die russischen Streitkräfte, die nach Angaben des norwegischen Generalstabschefs Eirik Kristoffersen immer noch auch über riesige Arsenale an Raketen und Drohnen verfügen. Die Ukraine wird aber immer weniger in der Lage sein, die zerstörte Infrastruktur zu reparieren – das Material dafür wird immer knapper und müsste aus Russland geliefert werden. Ohne ausreichend Energie wird die Versorgung der Menschen aber zunehmend schwieriger. Zudem braucht die ukrainische Rüstungsindustrie dringend Strom.

 

Drittens: Russlands Militär versucht den westlichen Präzisionswaffen mit Masse zu begegnen und kann dabei auf genügend Ressourcen zurückgreifen. Das gilt vor allem im Panzerbereich. Russland dürfte demnächst laut der Londoner Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) über 4000 einsetzbare Panzer verfügen – eine erdrückende Masse, die nicht nur ein großes Risiko für die Ukraine: Warum es nahezu ausgeschlossen ist, dass Kiew noch siegt westlichen Leopard-Panzer darstellt, sondern Russland auch jederzeit in die Lage versetzt, in die Offensive zu gehen.

 

Viertens: Der Ukraine gehen mit zunehmender Dauer des Krieges die Soldaten aus. Man befindet sich bereits – je nach Betrachtung – mindestens in der achten Mobilisierungswelle, mittlerweile werden Männer über 60 Jahren an die Front geschickt. Dagegen wird Russland in Kürze 200.000 frische Kräfte aufbieten, angeblich könnten im Sommer sogar noch bis zu 500.000 weitere Soldaten folgen. Moskau hat ein Mobilisierungspotenzial von rund 30 Millionen Personen.

 

Fünftens: Russland dürfte aus den genannten Gründen nicht nur als militärischer Sieger mit territorialen Gewinnen aus diesem Krieg hervorgehen, sondern auch als politischer Sieger: Die wirtschaftliche Erholung der Ukraine wird nach Einschätzung des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) signifikant schwieriger werden, als der „Nationale Rat für den Wiederaufbau der Ukraine“ prognostiziert. Eine Mitgliedschaft in der Nato dürfte nach einem Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sein, und der EU-Beitritt der Ukraine wird – im günstigsten Fall – sehr viel länger dauern, als Kiew derzeit fordert.

Und wie ist die Lage derzeit auf dem Kriegsschauplatz? Während sich der Westen – gut zu beobachten in der Person von Kanzler Olaf Scholz – unablässig windet und ziert, das eigene Versprechen einzuhalten, „alles in unserer Macht Stehende für die Ukraine zu tun“, verliert Kiew Zeit, um endlich aus dem Stellungskrieg herauszukommen und in die Offensive gehen zu können. Die russischen Truppen nutzen diese Zeit, um sich einzugraben, Minenfelder zu legen, Stellungen auszubauen, frische Reservekräfte und neues Kriegsgerät nachzuschieben, um im Frühjahr besser gerüstet zu sein für Angriff und Verteidigung. Mit den versprochenen Lieferungen von Kampfpanzern – die Ukraine hatte 300 verlangt und bekommt nur circa 130 – ist die Ukraine wohl nicht in der Lage, erfolgreiche Gegenoffensiven bei Kreminna und vor allem Saporischschja zu starten, um die russischen Truppen auf der Krim von der Versorgung abzuschneiden. Das gilt umso mehr, weil die Ukraine für einen erfolgreichen Panzerangriff in Richtung Krim auch Kurzstreckenraketen mit einer größeren Reichweite (ATACMS), mehr Schützenpanzer (100 versprochen, 500-600 von Kiew gefordert), mehr Artilleriesysteme (70 versprochen, 500 gefordert) und Kampfjets benötigte.

Kiew läuft gerade die Zeit davon – und der Westen schaut zu. Aus Angst vor dem Überschreiten „roter Linien“, die Russlands Präsident Wladimir Putin gesetzt hat, tun Europa und die USA auch nichts dafür, die russische Satellitenkommunikation zu stören, was die Angriffsfähigkeiten Moskaus massiv beeinträchtigen würde.

Die internationale Gemeinschaft leistet sehr viel zur Unterstützung der Ukraine. Aber es ist immer noch viel zu wenig, damit Kiew seinen berechtigten Anspruch auf territoriale Integrität durchsetzen kann. Dahinter kann man nur Kalkül vermuten. Wer mit westlichen Diplomaten spricht, hört immer häufiger von der Angst vor einer Eskalation, von der Sorge vor einer Kriegsmüdigkeit der demokratischen Gesellschaften und von der Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand. Und genau auf diesen schnellen Waffenstillstand läuft das Engagement des Westens mittlerweile hinaus – stillschweigend natürlich. Das Ergebnis wird sein: eine amputierte Ukraine.

 

Von Christoph B. Schiltz

Korrespondent in Brüssel

 

...bearbeitet, teilweise gekürzt und eingestellt von HAM am 05.02.2023

 

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