Aufreizender Pragmatismus oder ökologischer Dirigismus?

 

Noch ist nichts in trockenen Tüchern. Selbst die Neuauflage der bisherigen Koalition aus Union und SPD unter umgekehrten Vorzeichen oder das Experiment einer rot-grünen Minderheitsregierung sind noch nicht ganz vom Tisch. Viel wahrscheinlicher ist aber derzeit eine Ampel-Koalition. Man ahnt schon die Leitbegriffe, Floskeln und Überschriften, mit denen einem solchen Bündnis Sinn eingehaucht werden dürfte. Mit „Respekt – Nachhaltigkeit – Wachstum“ könnte der Koalitionsvertrag am Ende betitelt sein, vielleicht auch mit „Klima retten, Wirtschaft stärken, Zusammenhalt schaffen“. Es wird eine Erzählung sein, die die Versöhnung von ökonomischer und ökologischer Vernunft propagiert und dabei auf die soziale Balance achten will. Es wird auch nicht an Versuchen mangeln, eine Ampel-Koalition als historische Synthese und Fortschreibung der sozial-liberalen Koalition nach 1969 und der rot-grünen Koalition nach 1998 zu stilisieren. Gut möglich sogar, dass ein solches Narrativ sogar verfängt und der Koalition eine Zeitlang zu einer Art kulturellen Hegemonie verhilft.

Was vor uns liegen kann, dürfte aber um einiges nüchterner geraten. Schon die sozial-liberale Koalition und die rot-grüne Koalition waren einst prosaischer und konfliktbeladener, als es die legitimierende Demokratisierung und Modernisierung erkennen ließen.

 

Kehrtwenden weg von der Politik, die Angela Merkel und die von ihr moderierten Bundesregierungen verfolgten, sind auch deshalb nicht zu erwarten, weil die Ambitionslosigkeit und Passivität der vergangenen sechzehn Jahre nicht auf das Unvermögen einer Partei oder einer Person zurückzuführen sind. Dahinter steht ein stillschweigender Konsens aller demokratischen Parteien, bestimmte Herausforderungen noch nicht einmal zu ignorieren.

Die Ära Merkel waren deshalb verlorene Jahre im Hinblick auf die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Es wurden sogar noch zusätzliche Belastungen draufgesattelt – von der Mütterrente bis hin zur Niedrigzinspolitik, die jede Art von Vorsorge verleidet. Es spricht wenig dafür, dass ausgerechnet eine Ampel-Koalition hier nun ohne Not unpopuläre Strukturreformen auf den Weg brächte.

Eine weitere Erblast der Ära Merkel ist die schleichende Abkehr von der Stabilitätskultur der europäischen Währungsunion. Es ist nicht zu erwarten, dass eine Ampel-Koalition hier weniger nachgiebig wäre und den Begehrlichkeiten vieler europäischer Partner nach einer Vergemeinschaftung von Schulden entschlossener entgegenträte. Der Trend zu immer höheren Staatsschulden, immer niedrigeren Zinsen und immer laxerer Geldpolitik wird sich auch unter einer solchen Koalition fortsetzen, wenn nicht sogar forcieren.

Oder man nehme die Frage nach Innovation und Wettbewerbsfähigkeit des Landes: Der Glaube, dass der Staat Innovationen vorhersehen und lenken können und er sich auch selbst dafür zum Unternehmer aufschwingen dürfe, ist beileibe nicht nur eine Spezialität des scheidenden Wirtschaftsministers Peter Altmaier und des irrlichternden EU-Kommissars Thierry Breton. Der paternalistische Dirigismus, der nahezu alle Bereiche der Wirtschafts- und Strukturpolitik inzwischen durchdringt und von allen Parteien exekutiert wird, wird auch unter den Bedingungen einer Ampel-Koalition weiterwirken und neue Blüten treiben. Oder wer würde von einer Ampel-Koalition ernstlich erwarten, dass sie eine Staatsreform auf den Weg brächte, die der lähmenden Verflechtung und Diffusion von politischer Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen entgegenwirken würde? Und wer traut einer Ampel-Koalition wirklich zu, dass sie sich von dem sorglosen Trittbrettfahrertum der Bundesrepublik in der Außen- und Sicherheitspolitik verabschiedete und eine neue Verantwortungskultur begründen würde?

 

Es gibt allerdings auch Anlass zu ein wenig Optimismus. FDP und Grüne haben die strategische Chance, miteinander ritualisierte Konflikte zu überwinden und den politischen Konsens zu verändern. Vielleicht bringen beide Parteien auch einen gesellschaftspolitischen Konsens darüber zustande, wie die in der Corona-Pandemie zuletzt arg strapazierten Freiheitsrechte der Bürger gestärkt werden können. Die Kooperation beider Parteien bietet auch eine Chance zur Erneuerung des intellektuellen Diskurses in unserem Lande, der zuletzt arg unter Empörung, Moralisierung und Dialogunfähigkeit litt.


Hans Jörg Hennecke aus Hauptstadtbrief gekürzt eingestellt am 09.10.2021 von HAM

 
 
V

„Nicht nur das Weggehen aus Kuba ist ein Privileg. Auch nach Kuba zurückzureisen“

Juliana Rabelo, Exil-Kubanerin in Madrid

Deutschlands Küste 2050

Druckversion | Sitemap
© HAM

Diese Homepage wurde mit IONOS MyWebsite erstellt.